Frost, Celan und Michael Braun

Promises not kept -
Zu Robert Frost, Paul Celan und Michael Braun

von Ingeborg Schimonski

 

"Kühner als Neues zu entdecken, ist es, Bekanntes anzuzweifeln", dieses Zitat, Alexander von Humboldt zugeschrieben, stelle ich an den Anfang meiner Betrachtung dreier Texte, die aufeinander bezogen sind: Robert Frosts Gedicht "Stopping by Woods on a Snowy Evening", Paul Celans Übersetzung davon und eines lobenden Artikels über diese Übersetzung, geschrieben von Michael Braun.1 Frost ist für viele Menschen in den USA der größte Dichter des 20. Jahrhunderts, Celan und Braun gelten als Größen der deutschen Literatur, ersterer als Dichter der Nachkriegszeit und letzterer als Lyrikexperte. Während ich nicht mehr vorzuweisen habe, als dass ich nebst anderen schwer zu übersetzenden Texten die Complete Poems von Robert Frost ins Deutsche gebracht habe.
Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass Celans Übersetzung wenig geglückt ist und ich die Begeisterung Herrn Brauns über sie nicht teile, also beide die Erwartungen nicht erfüllen, die man an sie stellen könnte. Gleichzeitig möchte ich einige Kriterien zur Bewertung guter Lyrikübersetzung entwickeln.

Zunächst zum englischen Original. Der Inhalt erschließt sich ohne weiteres, denn eine anscheinend belanglose Begebenheit ist in einfachen Worten beschrieben. Formal besteht es aus vier Strophen zu je vier Zeilen, jede Zeile aus vierhebigen Jamben, die überdies völlig gleichmäßig sind. Das stellt eine Seltenheit bei Robert Frost dar, der fast immer das Versmaß der gesprochenen Sprache anpasste und dabei Unregelmäßigkeiten in Kauf nahm.
Das Reimschema ist ausgeklügelt und kommt ebenfalls sonst nirgendwo in seinem Werk vor: aaba bbcb ccdc ddd(d). Die dritte Zeile einer Strophe gibt also stets den Reim für die folgende Strophe vor und verzahnt so die Strophen miteinander. Frost hätte an die dritte Zeile der letzten Strophe den Reim a setzen können, hat sich aber dafür entschieden, sie zu wiederholen.
Wir haben es also mit einem fest durchstrukturierten Gedicht zu tun, das nicht nur von Schnee erzählt, sondern auch von kristallener Klarheit bestimmt ist. Überdies sind von den 110 Wörtern 94 einsilbig, abgemildert nur dadurch, dass diese Wörter meist lange Vokale haben. Das ist selbst für die englische Sprache viel und verleiht dem Text das, was Frosts Biograf Lawrance Thompson mit dry terseness bezeichnet. Auf spezielle Weise gibt das den Tonfall der Bauern Neuenglands wieder, der Robert Frost inspirierte und den er dichterisch verarbeitete.
All diese formalen Qualitäten weisen darauf hin, dass hier hinter einem simplen Geschehen, hinter einer auf den ersten Blick hübschen Geschichte mehr steckt. Der scheinbaren Romantik des verschneiten Waldes steht der harte Rhythmus der Silben entgegen, und dieser Kontrast zwischen Inhalt und Form zielt präzise auf die Kernaussage des Gedichts, den Konflikt zwischen der Hingabe an die Natur und den Pflichten, die es zu erfüllen gilt.

Um mich so kurz wie möglich zu fassen überspringe ich die Einleitung in Brauns Artikel, möchte nur kurz klarstellen, dass Frost bei Kennedys Amtseinführung nicht dieses, sondern das Gedicht "The Gift Outright" vortrug.
Richtig ist die Beobachtung, dass in der "Rede" des Pferds (nicht der Schelle!) Ironie liegt und diese in der deutschen Fassung Celans spürbar ist. Aber wenn der Doppelpunkt wörtliche Rede signalisiert, müsste es eigentlich mein Herr heißen. Dass Celan die Zeichensetzung etwas verändert hat, ist so marginal, dass es nicht erwähnenswert ist. Besser hätte er allerdings Anführungszeichen gesetzt, damit klar wird, wie lange das Pferd redet. Bis zum oder nicht? in der zweiten Zeile der dritten Strophe? Also ganze vier oder fünf Zeilen lang? Das entspricht nicht dem Original, denn dort "fragt" das Tier nur in der zweiten Zeile der dritten Strophe.
Sicher, bei der Übersetzung gebundener Sprache müssen immer wieder auch Abstriche beim Inhalt gemacht werden, durch Einfügen und Weglassen einzelner Wörter oder Abänderung des Satzbaus. Halten wir dennoch als erstes Kriterium einer guten Übersetzung fest: Sie sollte so weit wie möglich sachlich richtig und präzise sein und eventuelle Modifikationen sollten mit der Gesamtaussage des Textes korrespondieren.
In dieser Hinsicht wäre übrigens vor allem das Wälder zu beanstanden. Nicht jeder kann wissen, dass der englische Plural woods im Deutschen sowohl Wälder als auch Wald bedeuten kann, und Celan stand wahrscheinlich kein ausreichend präzises Wörterbuch zur Verfügung. Dennoch hätte ihm sein Sprachgefühl sagen müssen, dass Wälder einfach nicht passt. Der Plural hat nur dann Sinn, wenn man sich geographisch große Räume vorstellt, wo die Bewaldung durch andere Bodennutzung unterbrochen und zerteilt ist. In diesem Gedicht aber ist der Wald nah und seine Dimension spielt keine Rolle. Außerdem ist Wald in einem poetischen Text symbolisch zu verstehen, was beim Plural nicht mehr erspürbar ist. Zu einer guten literarischen Übersetzung gehört daher auch, dass der tiefere Sinn der Wörter stimmig wiedergegeben ist.
Ein weiteres Kriterium führt Braun selbst ein, nämlich die Klangtreue.
Er macht sie an dem Wort queer/verquer fest. Ja, das ist eine genaue Übersetzung, zumal beide Wörter die gleiche etymologische Wurzel haben (nur der Vokal wird unterschiedlich ausgesprochen), aber: Um von Klangtreue zu sprechen, genügt nicht ein einzelnes Wort, sie muss sich auf das gesamte Gedicht beziehen. Man sieht auf den ersten Blick, dass bei der Übertragung die Zeilen mit bis zu sechs Hebungen länger sind. Auch ist das Versmaß nicht regelmäßig, was man beim lauten Lesen leicht feststellen kann. Nur Strophen- und Zeilenzahl der Übersetzung stimmen mit dem Original überein. Aber das ist nun wirklich kein Hexenwerk. Unnötig lang ist beispielsweise die letzte Zeile der ersten Strophe geraten, wobei beide Satzhälften eigentlich das Gleiche ausdrücken. Ich sagte bereits, die Sprache in Stopping by Woods ist äußerst verkürzt, da verbieten sich überflüssige Wiederholungen in der Übersetzung. Daher hier das vierte Kriterium: die Gewichtung der sprachlichen Bausteine sollte auch in der Übersetzung gewahrt sein.

Durch Celans Änderungen wird aus dem von einem harten Takt bestimmten Ton des Originals, der Frostschen lakonischen Knappheit und Einfachheit, etwas Weiches, fast Romantisches, sehr schön vorgetragen hier:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/frankfurter-anthologie-robert-frost-innehaltend-inmitten-der-waelder-an-einem-schnee-abend-14363162.html. Zugegeben, das mag zur Verführungskraft der Schönheit der Natur passen, die hier thematisiert wird, aber es ist eben kein Anliegen Frosts, den Leser in Stimmung zu versetzen und es entspricht nicht dem sound, den er diesem Gedicht verliehen hat. Ich frage mich, was Celan gesagt hätte, wenn ein amerikanischer Übersetzer seine "Todesfuge" im Stil eines Keats oder eines Wordsworth wiedergegeben hätte. Ich kann daher Michael Braun nicht zustimmen, dass Celans Übersetzung klangtreu ist, sondern bin der Ansicht, sie weicht beträchtlich vom speziellen Klang von Stopping by Woods ... ab.

Kommen wir zum Reim, an dem der Übersetzer seine Kunst beweisen kann, denn, fünftes Kriterium, der Reim sei in Original und Übersetzung der gleiche oder zumindest ebenso raffiniert. Aus dem "kunstvollen Kettenreim" ist aber hier in der ersten Strophe ein Kreuzreim geworden, in den drei anderen Strophen der Versuch eines vierfachen Reims, bei dem es allerdings viermal knirscht: Herr/her ist von der Aussprache her so gut wie identisch; finsterer ergibt eine seltsame Betonung; -icht/nichts ist gar kein Reim und traf/versprach ein unreiner. Das ist anderes Reimschema und nicht "leicht abgewandelt". Und es ist ein Defizit, denn die oben erwähnte Verzahnung der Strophen ist dabei verlorengegangen. Mir liegen mehrere weitere Übersetzungen vor, auch von Amateuren, wo es fast gelungen ist, Frosts Reimschema beizubehalten oder ein anderes regelmäßiges anzuwenden.

Braun sieht das versprach als ohne Reimpartner an, was das Wort aufwerte und diesem Wort daher besondere eine Bedeutung beilege, nämlich eine Beziehung zu dem mistake/Missverständnis der zehnten Zeile. Er fasst das Wort also in seinem Doppelsinn auf, einerseits als "Versprechen" und andererseits als "Versprecher" im Sinn von irrtümlich etwas Falsches sagen. Aber diesen Doppelsinn hat promise nicht, denn sich versprechen heißt im Englischen to misspeak. Und wer tut eigentlich den Versprecher? Das Pferd? Das lyrische Ich? Aber letzteres schweigt ja während des ganzen Geschehens. Freilich ist das Interpretation Michael Brauns und kann nicht Celan angelastet werden. Ich glaube eher, versprach war ihm eine Notlösung, weil er kein passendes Reimwort auf -af gefunden hat. Dennoch können wir an dieser Stelle ein sechstes Kriterium festhalten: Eine gute Übersetzung sollte den Text nicht mit Bedeutungen aufladen, die er nicht hat.

"Versteckte Modernität" bei Frost, einverstanden, dazu gleich mehr. Allerdings Achtung bei dem Wort "Musik"! Denn es weckt hier, einfach so in den Raum gestellt, falsche Vorstellungen, weil man unvermittelt an eine Melodie denkt. Celan hat eine solche in die Übersetzung hineingebracht, an die dichterische Tradition vergangener Jahrhunderte anknüpfend, doch genau das lag hier nicht in Frosts Absicht. Stopping by woods ... ist vielmehr stark vom Takt bestimmt, wie auch viele Formen der Musik des 20. Jahrhunderts, und, wenn wir auf die inhaltliche Ebene wechseln, wie das moderne Arbeitsleben, für das promises to keep die Metapher ist. Im übrigen hat Frost immer wieder betont, dass seine Dichtung nicht musikalisch sei, sondern gesprochen werden solle. Zu dem Thema verfasste er ein Sonett mit dem Titel The Oven Bird.
Das ist aber nicht das einzige Argument für Frost Modernität. Ich wies schon darauf hin, dass Ausgangspunkt seiner dichterischen Arbeit die gesprochene Sprache mit ihrem reduzierten Wortschatz war, dass er wie Luther "dem Volk aufs Maul sah." Er hat sie durchaus in eine künstlerische Sprache verwandelt, dabei aber die hergebrachten dichterischen Formulierungen und grammatischen Konstruktionen bewusst vermeidend und überwindend.
Außerdem überzeugt er als Dichter durch seine Wandlungsfähigkeit, durch sein Vermögen, jedem seiner Gedichte den ihm eigenen Ton oder sound zu geben, je nach Thema und Perspektive. Ihm wurde vorgeworfen, er schließe sich den formalen Experimenten der Moderne nicht an. Weit gefehlt, er probierte stets Neues aus und erforschte, welcher Rhythmus, welcher sound sich mit welchen Inhalten verbinden lässt. Nur erschließen sich diese subtilen Modulationen erst, wenn man Vorurteile beiseite legt und sich intensiv genug mit seinen Gedichten auseinandersetzt.
In Celans Übertragung kommt, wie gesagt, die formale Eigenart von Stopping by woods ... nicht heraus und der Forderung Goethes, Form und Inhalt sollen sich entsprechen, ist hier eben nicht Genüge getan. Leider wird das deutsche Publikum nur mit solch mittelmäßigen Übersetzungen der Gedichte Frosts konfrontiert, und so ist es nicht verwunderlich, dass dieser überragende Dichter im deutschen Sprachraum fast unbekannt ist oder höchstens als out abgetan wird.

Kommen wir abschließend zu den beiden bei Frost identischen Schlusszeilen. Nach dessen eigenen Aussagen diente diese Wiederholung nur dazu, in der dritten Zeile kein Endwort ohne Reimpartner zu haben. Natürlich ist es gut möglich, dass noch mehr dahinter steckt, gute Dichter schreiben ja manches auf unbewusste Weise. Sei es wie es sei, es gibt keinen Grund, die beiden gewollt gleichen Sätze verschieden zu übersetzen. Gerade in der Lyrik, die ja eng mit dem Lied verbunden ist, sind die strukturierenden Elemente Wiederholung und Refrain wichtig, und sie verliert in der Übersetzung, wenn dies nicht berücksichtigt wird. Halten wir als siebtes Kriterium fest: eine gute Übersetzung sollte auffallende formale Teile beibehalten, weil sie Teil der ästhetischen Qualität sind, Hinweise auf die tiefere Bedeutung geben können und somit den Inhalt mit bestimmen.

Die Liste der Kriterien ist sicher nicht vollständig, und es wäre da und dort noch etwas sowohl bei Celan als auch bei Braun anzumerken. Aber ich will es dabei belassen und dem interessierten Leser nahelegen, in Ermangelung guter Übersetzungen Frosts Gedichte im Original zu lesen. Seine Sprache ist direkt und unverschnörkelt – gleich der modernen Architektur. Es gibt hier viel zu entdecken!

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1 Michael Braun: Innehaltend inmitten der Wälder an einem Schnee-Abend, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurter Anthologie), aktualisiert am 29.7.2016, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurter-anthologie- gedicht-von-robert-frost-14361534.html – Dort wird die Celansche Übersetzung zitiert.