1900-1911: Leben auf dem Land - Eskapismus?
Im Frühjahr 1900 ließ sich Frost mit Elinor und der 1899 geborenen Tochter Lesley auf einer Farm in Derry, New Hampshire, nieder. Sein Großvater hatte ihm die Farm finanziert. Nicht immer ließ sich das Dichter- mit dem Bauernleben harmonisch verbinden. In manchen Lebensbeschreibungen Frosts liest man, er habe in dieser Zeit morgens vor der Farmarbeit seine Gedichte geschrieben, und wir bekommen das Bild eines arbeitsamen Frühaufstehers. Aber: Robert Frost – ein Frühaufsteher? Da schütteln alle, die sich mit dem Leben des Dichters beschäftigt haben, einmütig den Kopf. Elizabeth Sergeant berichtet, die Kuh sei mittags um eins und wieder um Mitternacht gemolken worden, um dem Dichter die stillen nächtlichen Stunden zu schenken, wenn die Landleute tief schlafen, um morgens früh aufzustehen. Wenn die letzte Arbeit des Tages getan war, wenn alles schwieg, begann "das Reich von Frosts Gedanken und Träumen" (Sergeant). Er habe an der Petroleumlampe gesessen, um seinen Shakespeare oder Vergils Eklogen zu lesen. Vielleicht, so Sergeant, habe er etwas in eines der Fünf-Cent-Notizhefte geschrieben, die er pro Jahr geführt habe (nicht etwa pro Tag oder pro Monat). Keine Hast. Nur eine stille, kreative Düsterkeit, wie man sie in Into My Own finde, wo sich die ungeheure Weite des Waldlands dem Unbewussten des Sprechers anzunähern scheine. Dieses Sonett erschien im Mai 1909 im New England Magazine und lässt die Lebensträume des jungen Dichters erahnen, gleichzeitig wirft es ein helles Licht auf sein außerordentliches Selbstbewusstsein. Es wird 1913 den ersten Gedichtband, A Boy’s Will, einleiten, der in England herauskam, als Frost sich dort etwa zweieinhalb Jahre mit seiner Familie aufhielt. Der Band enthält dreißig Gedichte, die größtenteils in den dichterisch äußerst fruchtbaren Jahren zwischen 1900 und 1911 entstanden, als er in Derry lebte.Der Sprecher in Into My Own ist ein junger Mensch, der ohne Furcht nicht nur in die Weite (vastness), sondern auch in eine unbekannte Düsterkeit (dark, gloom) aufbricht und keinen Grund dafür sieht, je zurückzukehren, da die Zurückgebliebenen ihn nicht vermissen werden. Sie würden ihn nicht verändert vorfinden, nur noch sicherer in dem, was er immer schon für wahr gehalten habe. … I should not be withheld but that some day / Into their vastness I should steal away / Fearless of ever finding open land (…) They would not find me changed from him they knew – / Only more sure of all I thought was true.
"Einsam und aufschlussreich" nennt Elizabeth Sergeant das Gedicht und berichtet, wie Frost ihr bekannt habe, es repräsentiere seine ursprüngliche Sehnsucht, vor etwas zu fliehen. Vielleicht, überlegt sie, habe er die Angst gehabt, von der Textilfabrik in Lawrence nicht mehr loszukommen oder unter die Kuratel älterer Verwandter zu geraten, und sie erinnert sich an ein Gespräch mit Frost in den zwanziger Jahren, in dem es um den Begriff "Eskapist" ging, also um einen Menschen, der aus der realen Welt zu fliehen versucht. Frost habe sich gegen die negative Bedeutung dieses Worts gewandt und gefragt: Wovor flieht man denn? – doch vor etwas, das einem die Luft abschnürt. Und wohin flieht man? Dorthin, wo man bekommt, was man braucht. Thompson zitiert dazu ein weiteres Wort Frosts: "Ich wurde gefragt, ob ich mich selbst als Eskapist sehe (…). Nun, jemand kann doch einen Baum hinaufklettern und muss deswegen noch kein Eskapist sein. Vielleicht will er dort nur etwas pflücken."
Schriftstellern, Dichtern zumal, deren gesellschaftliche Relevanz oft nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, wird gerne der Vorwurf des Eskapismus gemacht. Und wenn es ihnen – wie Robert Frost – der Mühe wert erscheint, wehren sie sich dagegen. Hier erlaubt sich der deutsche Biograf eine Parallelstelle aus dem Werk des 2022 verstorbenen Hans Magnus Enzensberger zu zitieren. Sie stammt aus dem Gedicht Der Fliegende Robert aus dem Jahr 1980: Eskapismus, ruft ihr mir zu, / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter! – , / spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte … So reichen sich über Zeiten und Kontinente hinweg Dichter die Hand: der Fliegende Robert Frost.
Mit dem Thema Eskapismus hat sich Frost offenbar lebenslang auseinandergesetzt. In seinen letzten Gedichtband, In the Clearing von 1962, hat er ein kurzes Gedicht mit dem Titel Escapist – Never aufgenommen. Darin beschreibt er den Menschen nicht als Flüchtigen, sondern als Verfolger, er dreht das Verhältnis sozusagen um. Deirdre Fagan schreibt, das Gedicht repräsentiere die Menschheit von ihrer besten Seite: alle Tage des Lebens würden genutzt, das Leben sei ein ewiges Streben nach dem Streben: His life is a pursuit of a pursuit forever, wie es in dem Gedicht heißt. Elizabeth Sergeant berichtet, dass Frost einmal auf die Frage, ob er Poesie als eine Flucht definieren würde, geantwortet habe: "Nein, Poesie ist eine Art, das Leben an der Gurgel zu packen." So gesehen kann man auch Frosts Hang zum Land, die Reihe von Farmen, die er im Lauf seines Lebens erworben hat, als einen Versuch werten, sich die Freiheit zu "pflücken", die er für diesen Zweck brauchte. Denn immer wieder hat er im Lauf seines Lebens Farmen erworben, seine Leidenschaft für sie war so groß geworden, dass Thompson schrieb, jedes ländliche Anwesen, vor dem ein Schild "Zu verkaufen" stand, habe auf Frost eine besondere Faszination ausgeübt. Ständig scheine er nach Farmen Ausschau gehalten zu haben, die er zu einen annehmbaren Preis erwerben könnte, besonders, wenn das Haus auf attraktive Weise alt war und eine schöne Aussicht gehabt habe. Das Leben auf dem Land muss für Frost ein grenzenloses Freiheitsversprechen bereitgehalten haben.
Lesen Sie dazu auch Ingeborgs Beitrag zum Thema Robert Frost und das Landleben