1905-1906: Die Sprache der Landleute und eine Revolvergeschichte
Erfolgreicher als der Farmer war zweifellos der Dichter Robert Frost in diesen Jahren, auch wenn dieser Erfolg über die ganzen Derry-Jahre hinweg nur im Stillen stattfand. Man könne sich diese Jahre, schreibt Frosts Biograf Jay Parini, wie eine Verpuppungszeit vorstellen, in welcher er heranreifte. Gegen Ende dieser Dekade als Bauer, Poet und Lehrer sei er voll ausgebildet gewesen, ein bedeutender zeitgenössischer Dichter habe seine Stimme gefunden. Denn nach und nach lernte Frost, auf die Sprache der Landbewohner zu achten. Einer von Frosts Nachbarn, John Hall, war ein Mann, von dem sich Frost besonders angezogen fühlte: Er war nicht nur ein Fachmann in der Geflügelzucht – seine Küche war über und über mit Preisen tapeziert, die seine Hennen gewonnen hatten – sondern für Frost eine exemplarische Figur, die die stoische Lebenshaltung der Landbewohner repräsentierte, welche ohne Klage ihre Mühen hinnahmen und ohne den Versuch, etwas in ihrem Dasein zu ändern. Ihr Leben stützte sich auf Sorgfalt und Wertschätzung, und das war es, was Frost an den Menschen seines Umfelds beeindruckte. Des Öfteren erschienen ihm Redewendungen und klangliche Eigenheiten in der Sprache seiner Nachbarn wie Poesie. Er lauschte auf Betonungen oder Modifikationen in der Stimme, die das Gemeinte viel genauer ausdrückten als die Worte selbst. Hall verfügte über ein – wie Lawrance Thompson es nennt – pittoreskes Vokabular und einen flinken Witz, und seine Sprechweise wirkte auf Frost höchst inspirierend. Er verwendete Beugungsformen und Stimmmodulationen so, dass sie dem Sprachklang Farbe und Biss verliehen. Sein eigenes Sprechen begann Frost nach und nach dahingehend zu verändern, dass er die Eigenart nachahmte, in der seine Nachbarn Wörter verschluckten, Endungen fallenließen oder ihre Sätze abschnitten. Er kultivierte in jenen Jahren einen Sprechstil, der zur Grundlage seiner ureigenen Poetik werden sollte.1905 kam die Tochter Marjorie auf die Welt und vergrößerte die Familie. Lesley, die älteste Tochter, war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt und führte eifrig Tagebuch. Sie stellt Frost das beste Zeugnis aus, das sich ein Vater von seinen Kindern nur wünschen kann. Er habe die Kinder auf lange Spaziergänge mitgenommen, mit ihnen Blumen und Wurzeln gesucht um sie nahe dem Haus einzupflanzen, er habe sie beim ersten Schneefall hinausgescheucht um mit ihnen Schlitten zu fahren und Schneemänner zu bauen und habe Lagerfeuer "mit der Begeisterung eines zehnjährigen Pyromanen" aufgeschichtet, wie Parini schreibt.
Aus dieser scheinbar so idyllischen Zeit gibt es einen zutiefst verstörenden Bericht. Thompson gibt ein Ereignis wieder, das ihm Lesley Frost im März 1963, kurz nach dem Tod ihres Vaters, mitteilte, und das sich im Jahr 1905, als sie sechs Jahre alt war, zugetragen haben soll. Thompson nimmt an, dass Lesley die gespenstische Szene in ihrem Tagebuch festgehalten hat.1 Sie erinnerte sich, wie sie eines Nachts von ihrem Vater ziemlich grob geweckt wurde, der zu ihr sagte, sie solle aufstehen und mit ihm nach unten kommen. Weinend sei sie ihm durch die Halle und das Esszimmer in die Küche gefolgt. Dort habe sie ihre Mutter sitzen sehen, weinend, die Hände vors Gesicht gepresst. Erst dann habe sie bemerkt, dass der Vater einen Revolver in der Hand hatte, mit dem habe er zuerst auf die Mutter und dann auf sich selbst gedeutet und in erregtem Ton zu ihr gesagt: "Morgen früh wird einer von uns beiden tot sein. Du kannst wählen, wer."
Parini merkt dazu an, dass Lawrance Thompson keine Gelegenheit verstreichen ließ, Frost als Monster hinzustellen, räumt aber ein, falls diese Geschichte wahr sei, würde sie eine Seite von Frost zeigen, die dunkler sei, als sich die meisten Menschen vorstellen könnten. Auch gebe es keinen Zweifel, dass er sich mitunter abscheulich benommen hatte. Thompson berichtet weiter, Elinor sei aufgestanden, habe Lesley in die Arme genommen, sie aus der Küche geschoben und zurück ins Bett gebracht. Dort sei sie geblieben, bis sich das Kind schließlich in den Schlaf geweint habe. Am Morgen habe sich Lesly an alles erinnert, sich auch gefragt, ob sie vielleicht alles nur geträumt habe, doch, schreibt Thompson, habe sie in dem fast sechzig Jahre später stattgefundenen Gespräch gesagt, es hätte genügend Beweise für die Echtheit des Geschehens gegeben. Ihre Tochter Lesley Lee Francis sagte allerdings, in all den Jahren, in denen sie mit ihrer Mutter über deren Vater gesprochen habe, sei diese Szene nie zur Sprache gekommen. Die Mutter sei besonders als Kind immer wieder von Alpträumen heimgesucht worden und habe in späteren Jahren erkannt, die Geschichte sei wahrscheinlich einer ihrer Alpträume gewesen – ein klarer Widerspruch zu Thompsons Bericht. "Ich zweifle nicht", berichtet die Enkelin, "dass es Spannungen in der Familie gab, und dass Robert Frost zu Zeiten launisch und schwierig war; aber die Vorstellung, er habe Elinor mit dem Revolver bedroht, ist absurd, und die Geschichte läuft der ganzen Tendenz der Derry-Jahre zuwider, die wirklich idyllisch waren und an die sich die Kinder auch Jahrzehnte später noch gerne erinnerten. Mein Großvater hat sich völlig seiner Frau und den Kindern hingegeben, er war immer fürsorglich. Die Geschichte klingt einfach nicht wahr." _________________________
1 Die Szene ist nicht in Lesley Frosts veröffentlichten Kindertagebüchern aus den Jahren 1905 bis 1909 enthalten (Frost, Lesley: New Hampshire’s Child – The Derry Journals of Lesley Frost, Albany (NY), State University of New York Press, 1969)