Aus der Biografie 21

1906: Frost als Lehrer und Verfasser von Gebrauchslyrik

Trotz regelmäßiger Einkünfte aus dem Erbe des Großvaters reichte das Geld hinten und vorne nicht für den Unterhalt der inzwischen sechsköpfigen Familie. Ein alter Freund, der Priester William Wolcott, empfahl Frost, sich an der Pinkerton Academy in Derry zu bewerben. Bei dieser Highschool, die großen Wert auf traditionelle christliche Werte legte, handelte es sich um eine private, kirchlich geführte Einrichtung, die knapp hundert Jahre zuvor von Nachkommen schottischer Einwanderer gegründet worden war und nur drei Kilometer von Frosts Farm entfernt lag. Frost hatte, seit er dort lebte, bereits einige Mitglieder des Lehrkörpers kennengelernt, musste also nicht als völlig Fremder auftreten, auch ergaben sich durch Elinors schottische Abstammung weitere nützliche Anknüpfungspunkte.

Eine wichtige Persönlichkeit an der Pinkerton Academy war der Gemeindepfarrer Charles L. Merriam, ein Yale-Absolvent, selbst Schriftsteller, ehemaliger Gründer und Herausgeber der Yale Daily News und Mitglied im Leitungsgremium der Schule. Damit Frost sich in der Gemeinde bekannt machen könnte, schlug ihm Merriam vor, bei dem bevorstehenden Frühlingsbankett der Men’s League oft the First Congregational Church einige seiner Gedichte vorzulesen. Frost hatte nie zuvor öffentlich etwas vorgetragen und allein die Vorstellung, dies tun zu müssen, schreckte ihn. Merriam bot ihm deshalb an, ein Gedicht, das Frost aussuchen sollte, an seiner Stelle vorzutragen. Frost wählte das einige Jahre zuvor entstandene The Tuft of Flowers (mit dem er einst in Harvard so beschämend abgeblitzt war). Parini vermutet, Frost könnte die beiden letzten etwas moralisierenden Zeilen für diesen Anlass besonders geeignet gefunden haben: … ‚Men work together,‘ I told him from the heart, / ‚Whether they work together or apart.‘ Der Sprecher des Gedichts berichtet von seiner Arbeit, frisch geschnittenes Gras zu wenden, das ein anderer, alleine arbeitend wie er selbst, am frühen Morgen gemäht hat. Ein Schmetterling, auf der Suche nach den Blumen des Vortags, macht ihn auf ein Büschel Blumen am Bach aufmerksam, das der Mäher „aus purer Morgenfreude am Rand“1 hatte stehenlassen, und er wird des Zusammenhangs von allem gewahr: Blumen, Schmetterling, Bach, Vögel und nicht zuletzt die beiden – äußerlich getrennt – arbeitenden Menschen. Elizabeth Sergeant berichtet, Frost habe in ihr Exemplar der Selected Poems neben dieses Gedicht geschrieben: „A Boy’s Will erzählte, wie ich vor dem Leben davongelaufen bin und durch dieses Gedicht wieder zu ihm zurückgekrochen bin. Ich habe wörtlich gesprochen.“ Deirdre Fagan nennt das Gedicht hervorragend gearbeitet und ausdrucksstark, es spiegle den frühen Dichter wieder: romantisch im Stil, magisch in seiner Bildsprache, lasse aber in Thematik und Philosophie bereits viel von seinem späteren Werk vorausahnen. The Tuft of Flowers gilt als eines der besten Gedichte von Robert Frost.

Merriam, dem Pfarrer an der Pinkerton Academy, gefiel das Gedicht, er trug es vor, und auch das Publikum nahm Frosts erstes öffentlich vorgestelltes Werk beifällig auf. Insgesamt war der Abend für Frost ein großer Erfolg: Die Lokalzeitung The Derry Enterprise veröffentlichte das Gedicht in ihrer nächsten Ausgabe, und die informellen Gespräche, die sich an die Veranstaltung anschlossen, führten zu Frosts Einstellung als Englischlehrer. Zwei Stunden täglich sollte er zunächst unterrichten, fünf Tage in der Woche, mit Aussicht auf eine Vollzeitstelle nach Ende des laufenden Schuljahrs. Tausend Dollar sollte das Jahresgehalt betragen.

Im März 1906 begann Frost seine neue Arbeit. Nun sah er sich in einer anderen gesellschaftlichen Position und wollte sich nicht länger mit den schäbigen Gebrauchtmöbeln und -teppichen im Haus begnügen. Allerdings reichte das Einkommen noch nicht für größere Anschaffungen, und die nächste Zahlung aus dem Nachlass seines Großvaters war erst im Juli fällig. Mit der Aussicht auf die Vollzeitstelle riskierte er es, sich einen höheren Geldbetrag zu leihen: siebenhundertfünfzig Dollar zu sechs Prozent Zinsen, die halbjährlich zu zahlen waren, mit einer Laufzeit von fünf Jahren. Als Sicherheit sollte das verbriefte künftige Eigentum an der Farm dienen. Über das Zurückzahlen der Hypothek machte er sich wenig Sorgen. Diese Haltung eines großen Gottvertrauens spiegelt auch das Gedicht A Prayer in Spring wider, das vermutlich im Frühling 1906 entstanden ist und ein vollkommenes Hier-und-Jetzt-Gefühl ausdrückt: Oh, give us pleasure in the flowers today; / And give us not to think so far away / As the uncertain harvest; keep us here / All simply in the springing of the year …

Andere Gedichte, die Frost in dieser Zeit schrieb, könnte man als Gebrauchslyrik bezeichnen, etwa das zum hundertsten Geburtstag von Henry Wadsworth Longfellow verfasste The Later Minstrel, das Thompson als „von geringem künstlerischen Wert“ einstuft. Auch The Lost Faith, das er wieder von Merriam vor der Men’s Leage vortragen ließ, wird man wohl als Gelegenheitsdichtung ansehen müssen. Es handelt vom Bedauern über die verlorenen Ideale, für die die Unionisten einst im Bürgerkrieg gekämpft hatten, und erschien am 1. März 1907 in The Derry News, einem weiteren Lokalblatt. Parini nennt das Gedicht „peinlich konventionell, ohne Anzeichen Frostscher Originalität“. Aber für die Gelegenheit war es gerade richtig. Beide Gedichte nahm Frost nie in eine der Gedichtsammlungen auf, diese Vorträge festigten jedoch seine Verbindungen zu den örtlichen Honoratioren, die für ihn ein willkommenes Gegengewicht zu seiner bäuerlichen Nachbarschaft darstellten.

Auch wenn er im Kollegium der Pinkerton Academy sich einen anerkannten Platz sichern konnte, gelang ihm das, laut Thompson, mit seinen Schülern nicht so einfach. Manche von ihnen sahen in Frost einen humorlosen Pauker, manche beklagten sich, er lege zu viel Wert auf Aufsatzschreiben und das Auswendiglernen von Gedichten, andere sahen in ihm weniger den Lehrer als nur den gescheiterten Hühnerhalter. Dazu erzählt Thompson: eines Morgens betrat Frost vor Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer und entdeckte an der Tafel das Wort hen-man („Hühnermann“). Er wischte es nicht weg, sondern wartete auf die Schüler und ging einstweilen die korrigierten Aufsätze durch, um die Schriften mit der Handschrift an der Tafel zu vergleichen und kam zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Schüler sahen die Schrift an der Tafel, flüsterten natürlich untereinander, während Frost vorgab, nichts zu bemerken. Sobald die Glocke geläutet hatte, zeigte er mit dem Finger auf den Schuldigen, deutete sodann auf die Tafel und sagte: Dafür verlässt du die Klasse – und kommst nie mehr zurück! Bis zum Abend hatte sich der Vorfall in der Schule herumgesprochen, Frost wurde zum Direktor gerufen, und dieser zeigte Verständnis für Frosts Reaktion. Aber, sagte er, es sei nicht möglich, den Schüler deshalb dauerhaft aus der Klasse auszuschließen. Er würde das Klassenziel nicht erreichen und müsste dann Pinkerton verlassen. Dann wird er Pinkerton eben verlassen müssen, antwortete Frost. Es folgten Beratungen, die maßgeblichen Persönlichkeiten an der Schule, darunter Merriam, stellten sich auf Frosts Seite, und der Junge flog von der Schule. In der Folge hatte der neue Lehrer keine Disziplinarprobleme mehr, und die Schüler lernten, so formuliert es Thompson, dass ihr anscheinend so sturer Lehrer doch einen sehr feinen Sinn für Humor haben konnte, wenigstens, solange ihm nichts in die Quere kam. Frost zum Lehrer zu haben, bedeutete Arbeit, und man konnte ihn nicht herumschubsen.

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1 Sheer morning gladness at the brim ist der Untertitel des Buches von Frosts Enkelin Lesley Lee Francis: The Frost Family’s Adventure in Poetry, das sie 1994 veröffentlichte.


 


 

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