Gedanken zu Robert Frosts Gedicht Directive

Finden im Verlieren

(veröffentlicht in drei Teilen in "experimenta" Nr. 6, 7-8 und 9/2022)

 

Der US-amerikanische Dichter Robert Frost (1874–1963) veröffentlichte dieses Gedicht im Jahr 1947, meinem Geburtsjahr. Er war zu diesem Zeitpunkt 73 Jahre alt, so alt wie ich, als ich auf dieses Gedicht stieß. Das sind natürlich Zufälle, doch Directive faszinierte mich von Anfang an, ich verspürte eine Neigung auf den ersten Blick, fühlte mich persönlich angesprochen, auch wenn ich vom Sinn zunächst wenig begriff. Anziehend und verrätselt gleichermaßen erschienen mir die Zeilen: … burned, dissolved, and broken off / Like graveyard marble sculpture in the weather / There is a house that is no more a house / Upon a farm that is no more a farm / And in a town that is no more a town … (Zeilen 3–7)

Etwa anderthalb Jahre zuvor hatte ich begonnen, mich mit Robert Frosts Lyrik zu beschäftigen, hatte mich langsam und unsystematisch durch einige seiner Gedichte gearbeitet, als mir Directive in die Hände fiel. Das Morbide seiner Zeilen übte einen starken Reiz auf mich aus, Bilder von Ruin und Verfall tauchten auf, das Hinfällige allen Menschenwerks, die Flüchtigkeit des eigenen Lebens (dessen Ende mir aufgrund der im Alter immer schneller vergehenden Zeit nicht mehr so sehr fern zu sein scheint) und die daraus zuweilen folgende Melancholie wurden unmittelbar fühlbar. Erinnerungen an Kinderspiele kamen auf: … Weep for what little things could make them glad … (Z. 44), Dunkel-Geheimnisvolles schaute mich an: ein Führer, der im Sinn hat, in die Irre zu führen: … if you'll let a guide direct you / Who only has at heart your getting lost (Z. 9), ich fand mich wie von Gespenstern aus den Kellerlöchern der Ruinenspielplätze meiner Kinderzeit angestarrt … the serial ordeal / Of being watched from forty cellar holes / As if by eye pairs out of forty firkins … (Z. 20–22), und von den letzten Zeilen … Here are your waters and your watering place. / Drink and be whole again beyond confusion. (Z. 61–62) auf nicht erklärbare Weise getröstet. Ein schwer zu ergründendes Rätsel war mir dieses Gedicht. Aber das Rätselhafte war vermutlich das Attraktive.

Beim Raten lohnt es, auf die Lösungsversuche anderer zu schauen. Als ich mich an das Rätsel Directive wagte, war ich kein Neuling auf dem Gebiet von Robert Frosts Dichtung mehr, und so hat es mich nicht überrascht, im Netz eine kaum überschaubare Fülle von Rezensionen, Kommentaren, Artikeln und gelehrten Abhandlungen über das Gedicht vorzufinden, verfasst von Literaturwissenschaftlern, Kritikern oder einfach nur Liebhabern der sehr besonderen Gedichte von Robert Frost. Und es gibt tatsächlich Bücher, die nichts anderes als ein einziges seiner Gedichte zum Gegenstand haben.

Unter den Ratgebern, die ich herangezogen habe, befand sich Robert Frost. The Art of Knowing des amerikanischen Literaturkritikers Richard Poirier. Seine Worte über Directive sind allerdings wenig geeignet, das Abenteuer der Enträtselung dieses Gedichts zu bestehen: "[…] es ist ein trickreiches und hinterhältiges Gedicht, nicht, weil es viel zu sagen hätte, sondern weil es nicht sicher ist, was es tatsächlich sagen oder bewirken will. Es deutet Ironie an, die nur für diejenigen von Bedeutung sein kann, die sich in den Umkreis des Frostschen Werks eingeschlossen haben, und für diese sollte die Ironie von klaustrophobischer Selbstreferenz sein, die im Widerspruch zu den prätentiös großen rhetorischen Schwüngen und anmaßenden Ironien steht, denen sich das Gedicht hingibt." Gut, dass ich diese Sätze erst gelesen habe, nachdem meine Arbeit schon ein gutes Stück vorangekommen war.

Directive ist, wie erwähnt, ein spätes Gedicht, und eines der wenigen, die Frost nicht in Reimen geschrieben hat. Zwar hat er einmal die Ansicht geäußert, Dichten ohne Reime sei wie Tennisspielen ohne Netz, doch hat er selber gelegentlich gegen diesen Grundsatz verstoßen, Directive ist also gewissermaßen ohne Netz entstanden. Verständlicher ist es dadurch aber nicht geworden, zumal das Gedicht eine Reihe von Anspielungen auf früher Entstandenes enthält, die sich nur demjenigen erschließen, der das Gesamtwerk kennt. Die Selbstreferenz ist ein immer wieder auftretendes Kennzeichen schriftstellerischer Spätwerke. Die Einzelstücke und Etappen eines Lebenswerks bekommen auf diese Weise sichtbare Bezüge untereinander, beleuchten einander und führen so – im Idealfall – zu größerer Verstehbarkeit. Robert Frost schrieb dazu einmal A poem is best read in the light of all the other poems ever written. Darüber hinaus enthält Directive auch Bezüge zu den Werken anderer Dichter, und erst wenn die Mehrzahl der Hinweise und Bezugnahmen aufgedeckt und verstanden ist, gibt es die Chance, den Schleier zu heben, der hier, wie nur allzu oft, über einem Gedicht liegt.

Robert Frost ist ein Meister der Doppeldeutigkeit und des Hintersinns. Dass sich das sogar auf die Grammatik beziehen kann, zeigen schon die ersten beiden Wörter: Back out kann sowohl einen Zeitpunkt in der Vergangenheit bedeuten ("weit zurückliegend") als auch als Befehl verstanden werden ("zieh dich zurück!"). In jedem Fall soll ein größtmöglicher Abstand zur Gegenwart mit allem, was "jetzt zu viel für uns" sei (all this now too much for us), hergestellt werden. Und hier ist auch schon der erste Verweis auf eines von Frosts früheren Gedichten zu entdecken, nämlich auf Carpe Diem aus der 1942 veröffentlichen Sammlung A Witness Tree. Darin wünscht ein alter Mann still einem Liebespaar, es möge das Glück des Tages ergreifen, gleichzeitig aber zweifelt er, ob das Leben, und sei es noch so voller Glück, uns gerade auf Grund seiner Fülle überhaupt eine Chance lässt, die Gegenwart tatsächlich zu fassen: But bid life seize the present? Die Gegenwart überfordere uns, und daher lebe es sich in ihr weniger leicht als in der Zukunft, und in Zukunft und Gegenwart zusammen weniger leicht als in der Vergangenheit: It lives less in the present / Than in the future always, / And less in both together / Than in the past … denn zu viel sei diese Gegenwart für unsere Sinne, zu überfüllt und zu verwirrend, zu "präsent" um sie wirklich wahrzunehmen: … The present / Is too much for the senses, / Too crowding, too confusing – / Too present to imagine.

Der Hinweis auf die uns überfordernde Gegenwart reicht aber noch weiter. Thomas Dilworth, Professor für Moderne Literatur und Literatur der Romantik an der Universität von Windsor, Ontario, macht darauf aufmerksam, dass diese Eingangszeile mit einem Gedicht von William Wordsworth (1770–1850) korrespondiert: The world is too much with us, heißt es in dem gleichnamigen Sonett, das um das Jahr 1802 entstand, einer, wie Dilworth schreibt, der "frühesten Klagen über die moderne Zivilisation" . Ist auch Directive eine Warnung vor den "Modernen Zeiten"? Auf jeden Fall ist es eine vor der Überanstrengung durch die Gegenwart. Der guide gibt uns in dieser ersten Zeile den Rat (wenn es nicht gar ein Befehl ist), uns in eine vergangene, durch den Wegfall von Einzelheiten oder Ausführlichkeit (details) einfacher gewordene Zeit zurückzuversetzen. Das mag nach Nostalgie im Sinne von "Früher war alles besser" klingen, ist aber zunächst nicht mehr als die gutgemeinte Empfehlung, Abstand vom Lärm (too much) des gegenwärtigen Alltags zu nehmen. Man denkt an therapeutische Warnungen unserer Tage vor allzu aufreibendem Multitasking.

Warum aber schickt uns der guide zurück in die Vergangenheit? Die Annahme, frühere Zeiten seien einfachere Zeiten gewesen, muss doch als grobe Fehleinschätzung gelten. Für Menschen aller Zeiten konnte das Leben in ihrer jeweiligen Gegenwart too much werden, die Überforderung ist kein Kennzeichen unserer oder Robert Frosts Tage. Wir scheinen uns nur evolutionär an den zunehmenden Stress angepasst zu haben.

Kommt uns die permanente Überlastung dennoch gelegentlich zu Bewusstsein, so neigen wir dazu, vergangene Zeiten als die besseren zu verklären. Allerdings befürchte ich, dass wir das deshalb tun, weil wir über die Vergangenheit entweder nicht gut genug Bescheid wissen, oder, sofern es sich um unsere persönliche Vergangenheit handelt, wir sie uns nur – wissentlich oder unbewusst – bruchstückhaft ins Gedächtnis rufen. Erinnern wir uns, so blenden wir gern viele Einzelheiten des Geschehens aus, Angenehmes wie Unangenehmes, so dass lange vergangene Ereignisse sich oft viel einfacher darstellen als sie in der ehemaligen Gegenwart tatsächlich waren. Der loss of detail ist also womöglich eher einer unzuverlässigen Erinnerung geschuldet als tatsächlicher Einfachheit. "Wenn wir über die Vergangenheit reden", schreibt William Maxwell, "lügen wir mit jedem Atemzug" . So gesehen, sollten wir einem Mahnruf, uns in die Vergangenheit zurückzuversetzen, nur mit Vorsicht nachkommen. Vielleicht hat aber auch Jay Parini, einer der Biografen Frosts, mit seiner Deutung recht, wenn er davon spricht, dass uns bestimmte Einzelheiten zu sehr schmerzen würden, wenn wir sie aufs Neue erleben müssten, und uns deshalb der Erinnerung verweigern würden. Wir wüssten nicht, wen oder was wir verloren haben und wollten es auch nicht wissen.

Wir sollten den Rat des Sprechers noch einmal genau prüfen: handelt es sich wirklich um die Empfehlung, zurück in eine idealisierte (oder auch schmerzhafte) Vergangenheit zu fliehen? Dass Frost die Fallgruben der Erinnerung sehr bewusst gewesen sind, zeigt zuallererst eines seiner bekanntesten (und, wie David Orr, Kolumnist der New York Times Book Review, schreibt, am meisten missverstandenen) Gedichte, The Road Not Taken von 1916: Hier vermutet der Wanderer (das lyrische Ich), dass er sich eines fernen Tages an die Situation, in der er sich zwischen zwei Wegen zu entscheiden hatte, in einer Weise erinnern wird, die ihm vorgaukelt, er hätte einen der beiden Wege, nämlich den weniger begangenen gewählt und diese Wahl hätte in seinem Leben einen entscheidenden Unterschied gemacht: I took the one less traveled by, / And that has made all the difference. Diese letzten beiden Zeilen des Gedichts suggerieren, eine lebensentscheidende Wahl getroffen und sich vom Mainstream gelöst zu haben. Das Gedicht ist derart verfänglich gestaltet, dass ein mit Frosts Doppelbödigkeit noch unvertrauter Leser glatt übersehen kann, wie vorher im Text dreimal die Gleichartigkeit der beiden Wege – und damit die Bedeutungslosigkeit der Wahl – betont wird.

Daher liegt es nahe, in Directive nach einem anderen Aspekt dieses Ratschlags zu suchen: Die Vergangenheit eines jeden Menschen ist neben der durchlebten historischen Vergangenheit, die er mit allen anderen Zeitgenossen teilt, seine individuelle Kindheit. Und hier ist jede Nostalgie sinnlos, denn der Blick des Erwachsenen auf das Leben unterscheidet sich radikal von dem des Kindes. Die beiden "Weltanschauungen" können nie mehr in Übereinstimmung gebracht werden. Legt man einen kindlichen Maßstab an, so ist die Welt tatsächlich simple, was in keiner Hinsicht "besser" oder "schlechter" bedeutet, nur eben völlig anders. Es ist eine Sichtweise, zu der in der Regel kein Erwachsener wieder zurückfindet – aber gerade hierin liegt womöglich eine zentrale Aussage des Gedichts. Kann die Aufforderung Back out of all this now nicht einfach heißen: Werdet wie die Kinder? Da Frost in den Schlusszeilen das Markusevangelium zitiert, scheue ich mich nicht, das des Matthäus anzuführen: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Ist es also dieses Ziel, zu dem uns der Führer, der nichts als unser getting lost im Sinn hat, lenken will? Er zeigt uns die Spielsachen, die wir auf der Reise in die Kindheit wiederfinden: zerbrochen nach den Jahrzehnten, die zwischen den Kinderjahren und der Rückschau liegen, er will uns rühren (was sonst gewiss nicht Frosts Haltung ist), indem er uns daran erinnert, mit welch nichtigen Dingen ein Kind glücklich sein kann. Wir alle waren einmal Kind. Und darum geht es hier (unter anderem) möglicherweise: um das reine Glücks- und Ganzheitsempfinden, zu dem wir als Kinder imstande waren, als wir uns ins Spiel verlieren, Zeit und Raum vergessen konnten. Dieses getting lost ist eine Fähigkeit, die im Erwachsenenalter im allgemeinen nur noch Menschen erreichen, die außerhalb der geschäftigen Welt stehen. Dichter zum Beispiel.

Und doch sollen wir dorthin zurückfinden? Das Missverständnis liegt meines Erachtens in "zurück", einem Wort, das einen Rückschritt, ein Zunichtemachen von Erreichtem suggeriert. Aber weder der Evangelist noch Robert Frost reden von Rückschritt, das back der ersten beiden Zeilen ist, wie schon gesagt, nicht als nostalgische Rückkehr in vergangene, vermeintlich bessere Zeiten aufzufassen, sondern im Gegenteil als ein Ankommen, eine Heimkehr in die Welt der Kinder. Dorthin gelangt man nicht in einer Rückwärtsbewegung, schließlich können wir unser Leben nicht zurückdrehen, wir können nur nach vorne gehen. Allenfalls ist es eine Rück-Besinnung, die uns der guide nahelegen möchte: Parini berichtet, dass Frost seinem Publikum vor einer Lesung geraten haben soll: Go back to a favorite poet, or a place you almost forgot, um die Zuhörer mit einer ehemals wichtigen emotionalen Quelle zu verbinden. Eine Rück-Bindung, wie sie der lateinische Ursprung des Wortes "Religion" enthalte.

Eine "Führung durch den Verlust" nennt Thomas Dilworth Directive. Das Vokabular aus dem Umfeld des Verlorengehens ist zahlreich: loss, former, faded, once, weep, can’t find und anderes. Mehrfach wird der Verlust explizit genannt: die Einbuße der details, die das Leben einfach machen soll, wurde schon erwähnt; es folgt eine Reihe dessen, was nicht mehr ist: Haus, Farm und Stadt, und diese Aufzählung ruft zusammen mit dem Zustand der Straße zunächst ein Gefühl von Trauer über Verfall und Verlust hervor. Aber das Ziel des guide, dem sich der Leser anvertrauen soll, ist ja gerade das Verlorengehen. Wir sollen es auf uns nehmen, wir sind zu einer Art Trauerarbeit aufgefordert, die uns am Ende befreien, "wieder ganz" machen soll.

Um dieses Werden und Vergehen mit einem quasi höheren Maßstab, einem erdgeschichtlichen, zu messen, wird eine "Geschichte aus einem Buch" erzählt: die Felsen, die aus der Zeit menschlicher Besiedelung Spuren von Fuhrwerken tragen, zeigen auch geologische Spuren, ruled southeast northwest, sie sind das "Meißelwerk" eines Gletschers, Zehntausende von Jahren alt. Dessen Erbe besteht noch in einer "gewissen Coolness" der Region, um die man sich aber nicht kümmern solle, genauso wenig wie – und hier wird das Gedicht richtig kryptisch – um die "fortgesetzte Qual, aus vierzig Kellerlöchern angestarrt zu werden": Nor need you mind the serial ordeal / Of being watched from forty cellar holes / As if by eye pairs out of forty firkins (Zeilen 20–22).

Über die Bedeutung dieser vierzig Kellerlöcher, aus denen der im Gedicht Angeredete wie von vierzig Augenpaaren angestarrt wird, ist von Seiten derer, die sich mit Robert Frosts Directive beschäftigt haben, viel geschrieben worden. Von jeher hat die Zahl vierzig eine besondere Bedeutung: sie spielte in antiken Kalendarien eine wichtige Rolle, im Alten Testament dauerte die Sintflut vierzig Tage, Moses hielt sich vierzig Tage auf dem Berg Sinai auf, das Volk Israel wanderte vierzig Jahre durch die Wüste, vierzig Jahre lebte es unter der Herrschaft der Philister, die Könige David und Salomon regierten jeweils vierzig Jahre. Das Neue Testament berichtet von der vierzigtägigen Fastenzeit Jesu (worauf sich heute noch die ebenso lange Fastenzeit vor Ostern stützt) und den vierzig Tagen, die Christus nach der Auferstehung bei den Aposteln geblieben sei. Es gibt kirchliche Legenden von Märtyrergruppen, die aus jeweils vierzig Personen bestanden haben, und auch im Islam spielt die Vierzig eine bedeutende Rolle, so gibt es dort etwa den Glauben an die vierzig verborgenen Heiligen, die in der Welt umherwandern, und nach dem Tod eines Familienmitglieds ist eine vierzigtägige Trauerzeit einzuhalten. In der Pestzeit des 14. Jahrhunderts mussten Schiffe vierzig Tage (französisch: quarantaine) vor dem Hafen ankern, um sicherzugehen, dass niemand von Bord die Seuche an Land schleppen konnte.

Wir können davon ausgehen, dass Robert Frost, der ein gebildeter Mann war, sich der Bedeutung der Vierzig in Geschichte und Religion bewusst war. Nun bleibt das Rätsel zu lösen, auf welchen Zusammenhang er hindeuten will, wenn er von der Qual (ordeal), spricht, um die man sich nicht kümmern solle.

Wieder werfe ich einen Blick in Erklärungen, die andere gefunden haben: John F. Lynen, emeritierter Professor für Englisch an der Universität von Toronto, der einen Zusammenhang mit den vierzig Räubern aus Tausendundeiner Nacht sehen will, meint mit Bezug auf die Zeile A broken drinking goblet like the Grail, dies deute auf die quälenden Prüfungen hin, welche ein Gralsritter zu bestehen hatte (eine Verbindung, die schon Brower hergestellt hatte, indem er von "des Wanderers Version der Prüfung eines Artus-Ritters" schrieb ). Philip Booth (1925–2007, Dichter und Erzieher) dagegen interpretiert ordeal als die Mühe von Generationen arbeitender Menschen, deren beobachtenden Augen wir ausgesetzt seien, und die uns den Mut rauben würden. Der Critical Companion to Robert Frost der Schriftstellerin und Dichterin Deirdre Fagan sieht die vierzig Augenpaare – zusammen mit dem leisen Blätterrascheln in den Bäumen – ebenfalls als haunting, spukhaft bedrängend.

Die Möglichkeiten der Interpretation dieser Stelle sind außerordentlich vielfältig, und diese Vielfalt mag jeden Leser an einen anderen Ort führen, jeden etwas anderes erleben lassen. Oft gibt es viele Schichten zu entdecken, und nicht immer müssen alle freigelegt werden um zu einem – wenn auch möglicherweise unvollkommenen – Verständnis zu gelangen. Bei den vierzig lauernden Augenpaaren scheint mir das Wesentliche der Ratschlag zu sein, sich nicht um dieses Beobachtet-Werden zu kümmern (nor need you mind …), denn der Weg zum Wieder-ganz-Werden kann nur ein individueller sein und wird nur demjenigen offen stehen, der sich nicht von anderen abhalten lässt, ihn zu gehen.

Dass dieser Weg (der, wie schon erwähnt, auf keinen Fall ein Rückweg ist) beängstigend sein kann, weiß der Dichter, und er kleidet diese Angst gleich zu Anfang in suggestive Bilder: verwitterten Friedhofsskulpturen gleichen die details, die es loszuwerden gelte; Haus, Farm und Stadt, zu denen wir geleitet werden, sind nur noch Geisterorte, und aus der Straße, die einst dorthin führte, ist ein grotesker Steinbruch voll kolossaler Monolithen geworden, die als entblößte Knie aus ihr hervorragen. Der ruinöse Zustand untergegangener Zivilisation und die Verlassenheit der Szenerie haben etwas Unheimliches. Der Weg zu sich selbst ist kein harmloser Spaziergang. Ebenso wenig wie um das Angestarrt-Werden solle man sich um die Aufregung kümmern, die der Wald an den Tag legt. Jung und unerfahren seien die Bäume, und der Sprecher nimmt sie nicht ernst, sondern weist sie zurecht (Where were they all not twenty years ago? / They think too much of having shaded out / A few old pecker-fretted apple trees). Dazu rät uns der guide noch, auf diesem Weg zu uns selbst mit einem aufmunternden Lied auf den Lippen derjenigen zu gedenken, die einen solchen Weg vor uns gegangen sind, just ahead of you on foot. Bevor wir aber an das Ziel gelangen (das in das Bild eines jungen, kalten Bachs gekleidet ist), haben wir noch den "Höhepunkt des Abenteuers" zu bestehen: Wir erfahren vom Ineinander-Verschmelzen zweier "Dorfkulturen" (ein Begriff aus den Sozialwissenschaften, ein Bruch der Sprachebenen, wie ihn Frost immer wieder gerne vornimmt). Allem menschlichen Streben nach Dauer zum Trotz sind auch sie untergegangen, sind längst wieder lost (Z. 35). Dieses Verschmelzen findet auf der Höhe des Landes statt (the height of country), und ist deswegen so hoch angesiedelt, weil es das Eigentliche ist, das Amerika geleistet hat: die Verschmelzung unterschiedlicher Kulturen zu einer neuen Identität. Das ist aber nur durch die Aufgabe der früheren Identitäten zu erreichen.

In Zeile 36 folgt nun die entscheidende Stelle: And if you're lost enough to find yourself …, dann erst ist das Ziel erreicht, dann dürfen wir die Leiter einziehen und uns behaglich einrichten. Hier verlassen Frosts Anspielungen ein weiteres Mal die Selbstbezüglichkeit und greifen in die Schatztruhe der amerikanischen Literatur: Not till we are lost, in other words not till we have lost the world, do we begin to find ourselves, and realize where we are and the infinite extent of our relations – das schrieb Henry David Thoreau 1854 in "Walden", dem Buch, das nicht nur in Amerika seit Generationen die Bibel aller Nicht-Angepassten ist, und auf das sich Frost – offen wie verdeckt – immer wieder bezogen hat. Thoreau spricht es deutlich aus: Erst wenn wir uns selbst (gemeint ist das eigene Ego) verloren haben, fangen wir an uns selbst zu finden. Insofern ist Directive eher eine Antwort auf Thoreau als auf T. S. Eliot, auf den ich weiter unten zu sprechen komme.

Nun zum Gral, Gegenstand einer Legende, die mindestens so vieldeutig ist wie Frosts Gedicht. Welchen Zusammenhang hat er mit dem Spielzeug, das zum Schluss von Directive eine Rolle spielt? Die kindliche Fantasie schafft sich aus unbedeutenden Kleinigkeiten ein Reich: aus Stöcken, Tüchern, Steinen werden Zauberstäbe, Feenschleier, Häuser; ein Trinkbecher (auch er zerbrochen im Lauf der Jahre) könnte im Spiel – warum nicht? – zum Heiligen Gral werden, und damit ihn nicht die Falschen (die Erwachsenen, die das Reich des too-much bewohnen?) finden, hatte der guide ihn einst (als er ein Kind war und an dieser Stelle gespielt hat?) versteckt … hidden in the instep arch / Of an old cedar at the waterside … (Z. 55–56) und – Under a spell … (Z. 58) – mit einem Zauberspruch belegt: In diesen Zustand, in diese kindliche Seelenverfassung, gilt es aufs Neue hineinzufinden, anderenfalls werden wir nicht verhindern können, dass uns die Welt zu viel wird.

Allerdings erschöpft sich die Bedeutung des broken drinking goblet like the Grail (Z. 57) sicher nicht in der Bedeutung eines Kinderspielzeugs, das würde der typisch Frostschen Doppeldeutigkeit nicht gerecht. Und normalerweise spielt der Gral in Kinderspielen auch keine Rolle (obwohl, wer weiß: die religiöse Erziehung im Neuengland des späten neunzehnten Jahrhunderts muss man sich als stark christlich-kirchlich geprägt vorstellen, auch Frosts Mutter gehörte einer evangelikalen Freikirche an, und so ist ein "Gral", der vielleicht kurz zuvor in einem intensiv religiös gefärbten Schulunterricht behandelt worden war, als kindliches Phantasieobjekt nicht ausgeschlossen.)

Das Auftauchen des Grals in Directive hat von Anfang an Interpreten dieses Gedichts dazu veranlasst, nach einem inhaltlichen Bezug zu The Waste Land von Frosts Zeitgenossen T. S. Eliot zu suchen. Dieses 1922, also 25 Jahre vor Directive, veröffentlichte Gedicht markiert nach den Worten von Eliots Übersetzerin Eva Hesse "eine Sternstunde in der Dichtung der klassischen Moderne" . Randall Jarrell, US-amerikanischer Dichter und Literaturkritiker (1914–1965) spricht in Bezug auf Directive zwar nur von einer "Gral-Parodie", doch sieht auch er (wie andere Interpreten) darin Tieferes: Vieles von der Seltsamkeit des Gedichts liegt weit unter der Oberfläche, oder so sehr an der Oberfläche, in den feinsten Details (wie viele Leser werden die "fortgesetzte Qual" der Augenpaare mit der Gral-Parodie des Gedichts in Verbindung bringen?), dass man unbemerkt darunter rutscht. Parini schreibt dazu: "Directive scheint einen Teil des emotionalen Terrains von Eliots The Waste Land zu besetzen, das heißt, die moderne Welt wird als ein kaputter Ort gesehen, als eine zerstörte Landschaft, in der alle traditionellen Symbole inhaltsleer geworden sind." Und George Monteiro, unter anderem zeitweiliger Vorsitzender der Robert Frost Society, sieht Directive als Frosts "Antwort auf die großen Strömungen in T. S. Eliots Dichtung". Der Zusammenhang zwischen Directive und The Waste Land ist, ebenso wie das persönliche Verhältnis zwischen Robert Frost und T. S. Eliot, komplex, und ich will versuchen, es in einem weiteren Aufsatz genauer zu beleuchten.

Finding-in-Losing ist das entscheidende Paradoxon des Gedichts, und ehe ein Leser nicht von seinen eigenen verlassenen Orten (desert places) erschreckt wurde, ist er möglicherweise nicht "verloren genug", um von Frost durch diese Hochland-Suche geführt zu werden, schreibt Philip Booth in seinem Aufsatz über Directive. Der Begriff der desert places ist ein Hinweis auf Robert Frosts Gedicht mit demselben Titel, veröffentlicht in der elf Jahre zuvor (1936) erschienenen Gedichtsammlung A Further Range. Dort hat das Verlorensein jedoch einen sehr viel finstereren Klang: die Leere des Weltraums zwischen Sternen, auf denen es keine Menschen gebe, könne ihn (den Sprecher des Gedichts) nicht schrecken – dieser Leere sei er in seinem eigenen Innern um vieles näher. Frost-Kenner wie die deutsche Übersetzerin Ingeborg Schimonski bezeichnen Desert Places als Frosts düsterstes Gedicht. Der Zustand des Verlorenseins nimmt in Directive hingegen eine andere Färbung an: Die loneliness, wie diese Befindlichkeit in Desert Places benannt wird und dort in eine geradezu verbitterte Verzweiflung mündet, wird hier zu dem getting lost, einem Sich-Verlieren, das dem modernen Menschen allerdings immer noch genügend Angst einflößt. Das Leben in die eigenen Hände nehmen, Verantwortung für sich selbst übernehmen, denken "ohne Geländer" (Hannah Arendt) – das sind keine populären Eigenschaften, weder zu Frosts Zeiten noch heute. Zu gerne bedienen wir uns eines guide, eines "Führers" (und dabei muss man noch nicht einmal an die unheilvollsten denken, die die Geschichte hervorgebracht hat). Directive aber wandelt den Zustand des Ohne-Orientierung-Seins in einen um, der keine Orientierung mehr benötigt, eine Haltung, die anzustreben sei, will man das Wort des Matthäusevangeliums ernst nehmen. Ein für viele Menschen schwer annehmbarer Zustand. Aber es ist gerade der Zustand, zu dem uns der guide führen will: dorthin, wo wir keinen Führer mehr brauchen. To lose is to find, and vice versa, bringt es John F. Lynen auf den Punkt.

Das, was too much ist, heißt es abzustreifen, damit wir, um die Erfahrungen unseres Lebens bereichert, auf das Ziel zugehen können: Your destination and your destiny's / A brook that was the water of the house (Z. 49–50). Frost nimmt den Bach, der einst die Familie mit Wasser versorgt hatte, als Bild für die Besinnung auf eine Leben und Kraft spendende spirituelle Quelle: den kindlichen Ernst, der in dem Sich-im-Spiel-Verlieren steckt: This was no playhouse but a house in earnest. Der Bach kennt – nahe der Quelle – noch keine Erregung, die für ein too much sorgen könnte: Too lofty and original to rage (Z. 52), er ist der Ort, an dem wir wieder "ganz" sein dürfen, jenseits allen verwirrenden "Zuviels".

Ich hatte bereits die Möglichkeit angedeutet, dieses Gedicht individuell unterschiedlich zu verstehen. John F. Lynen arbeitet diesen Gedanken aus, indem er Bilder und Paradoxe des Gedichts zu Bedeutungssystemen erklärt, die man nur als Prozess beschreiben könne. "Man kann nicht alles anführen, was es möglicherweise bedeuten kann." Dass manche Bedeutungen "da" und andere nur "hineingelesen" seien, heiße, man gehe von einem irreführenden Konzept der Poesie als einem Ding aus, das einem Objekt im Raum entspreche und innerhalb der Begrenzungslinie seines äußeren Umfangs enthalten sei. Ich schließe daraus, dass es durchaus sachgerecht ist, wenn unterschiedliche Leser zu unterschiedlichen Deutungen kommen: Zur individuellen Art, den Lebensweg zurück zur Ganzheit zu beschreiten, kommt somit die individuelle Art, Frosts Dichtung zu begreifen. Eine Auffassung, die dem Individualisten Frost vermutlich gefallen hätte.

Kritiker, Literaturwissenschaftler und Frost-Kenner räumen Directive durchweg einen besonderen Platz im Werk Robert Frosts ein. Dilworth etwa bezeichnet es als Frosts kryptischstes Gedicht, Parini nennt es gleichermaßen Epitaph und poetisches Credo, das Frosts "innere Landkarte" darbiete. Reuben A. Brower, in den sechziger Jahren Professor für Englische Literatur in Harvard, nannte das Gedicht eine "einzigartige Erfüllung seiner lyrischen Impulse, seiner Neigung liedhaft zu sprechen und in einsamer Meditation zur Weisheit zu gelangen", wobei er sich auf Frosts eigenen Anspruch bezog, wonach ein Gedicht "mit Vergnügen beginnen und in Weisheit enden" sollte.

Robert Frost hat Gedichte a momentary stay against confusion genannt, und so ist es vielleicht nicht zu weit hergeholt, Directive neben den vielen Möglichkeiten seiner Interpretation auch als eine Anweisung zum Lesen seiner Werke zu verstehen: Read and be whole again beyond confusion – wenigstens für die Zeit der Lektüre und die Reflexion darüber.

Werner Friedl