Gedanken zu Robert Frosts Sonett Range-Finding

Wörter Treffen

(veröffentlicht in "experimenta" Nr. 5/2022)

 

A poem is not a string, but a web, soll Robert Frost einmal geäußert haben. Wie er das meinte, lässt sich auf ideale Weise an seinem Sonett Range-Finding illustrieren, das folgendermaßen lautet:

The battle rent a cobweb diamond-strung
And cut a flower beside a ground bird's nest
Before it stained a single human breast.
The stricken flower bent double and so hung.

And still the bird revisited her young.
A butterfly its fall had dispossessed
A moment sought in air his flower of rest,
Then lightly stooped to it and fluttering clung.

On the bare upland pasture there had spread
O'ernight 'twixt mullein stalks a wheel of thread
And straining cables wet with silver dew.

A sudden passing bullet shook it dry.
The indwelling spider ran to greet the fly,
But finding nothing, sullenly withdrew.

Es handelt sich um ein italienisches Sonett, dessen Quartette mit nur zwei verschiedenen Reimendungen auskommen, während die beiden Terzette jeweils das Schema ccd, eed aufweisen. Vom Metrum her sind es fünfhebige Jamben mit äußerst geringfügigen Abweichungen, was mit ein Grund ist, warum das Gedicht beim Lesen zunächst flach und tonlos wirkt.

Die Szenerie ist bizarr. In der ersten Strophe ist eine Schlacht (the battle) ein Subjekt, das die Natur – Spinne, Blume, Vogel mit Brut – in Mitleidenschaft zieht bzw. zerstört. Dann wird angedeutet, dass ein Mensch (human breast) durch einen Schuss verletzt oder getötet wird.

In der zweiten Strophe kehrt der durch den Schuss verjagte Vogel wieder zurück, und ein Schmetterling sucht seine Blume (his flower), findet sie und lässt sich darauf nieder. Durch die Pronomen wird nahegelegt, dass es sich um die zerschossene Blume handelt, allerdings ist schwer vorstellbar, dass ein Schmetterling sich unbedingt auf eine nach unten hängenden Blüte setzen will, zumal es ringsum weitere Blumen geben müsste, die noch intakt sind.

In der dritten Strophe scheint durch die Orts- und Zeitangaben upland pasture und o'vernight eine Zäsur zu erfolgen, und es entsteht die Vorstellung, am nächsten Tag und weit weg vom Ort des ersten gewalttätigen Geschehens zu sein. Ein Wollkraut (mullein stalks) und eine Spinne treten auf den Plan, diesmal miteinander "verknüpft", denn zwischen den Pflanzen spannt sich das Netz. Doch auch diese einsame morgendliche Idylle wird seltsamerweise durch menschliche Gewalt, einen Kugelschuss (passing bullet) gestört, wobei jedoch nicht ersichtlich ist, ob er mit dem Schuss der ersten Strophe in Zusammenhang steht. Diesmal wird das Netz zwar auch getroffen, es entsteht aber anscheinend kein Schaden, und so klingt das Gedicht komisch-sarkastisch aus: Der Schuss hat angeblich sogar den Nutzen, das Netz zu trocknen, was freilich eine bewusste Übertreibung darstellt. Nur die Spinne verstellt sich wie eigentlich nur Menschen das können (to greet the fly), wird aber selbst getäuscht und zieht sich missmutig zurück.

Durch diese Zusammenfassung des Inhalts ist sicher schon klar geworden, dass dieses Sonett alles andere als realistisch ist, sondern sein Inhalt eher ständig mit der Wirklichkeit kollidiert. Auf den ersten Blick liest es sich wie Kulturkritik oder als Anti-Kriegs-Erklärung: Hier die unschuldige Natur, die zum Opfer wird, dort der böse Mensch, der gegen sich selbst wütet und jene dabei stört und zerstört.

Auf den zweiten Blick wird diese Interpretation konterkariert, denn in der ersten Strophe ist ja ein Mensch das Opfer, während der Täter als battle gar nicht fassbar wird. Das cut und bent double im Kontext der Blume kann auf diese Verwundung oder das Sterben von Zeile 3 und auf den Schnitter Tod verweisen sowie ground schon auf das Grab. Der Schaden in der Natur hält sich indessen in Grenzen, da der Vogel sich gleich wieder um seine Brut kümmert und Schmetterling und Blume neben dem Verwundeten oder Toten wieder glücklich zusammenkommen. Die Wiesenblume wird wieder wachsen, und dass die Spinne ihr Netz schnell wieder repariert, ist zwar nicht beschrieben (es sei denn, man hält die Spinnen der ersten und der dritten Strophe für identisch), doch weiß jede Hausfrau, dass das schneller geht als ihr lieb ist. Mit anderen Worten, hier wird ausgesagt, dass menschliche Tragödien die Natur wenig tangieren und diese sich schnell wieder regeneriert. In der letzten Strophe wird sogar ausdrücklich ein Tier als Täter gekennzeichnet: die Spinne, die, wenn wir sie so menschlich sehen wollen, wie uns Frosts Ausdrucksweise in diesen Zeilen suggeriert, boshaft-hinterhältig ihr Heim als eine als cobweb diamond-strung und wheel of thread schön anzusehende Falle baut und nicht mit den freundlich begrüßten Gästen speist, sondern sie ver-speist. Durch diesen Kunstgriff, einem Tier menschliche Züge zu verleihen, ermöglicht Frost die unmittelbare und anschauliche Erkenntnis, dass es Aggressivität in beiden Welten gibt. In der Tat ist es eines seiner zentralen Anliegen, die Natur nüchtern und objektiv zu betrachten und das Verhältnis bzw. die Distanz Mensch-Natur in verschiedenen Facetten zu sehen, ohne Sentimentalität, die den Blick trübt.

Von der Vielfalt in der Wortwahl her ist dieses Gedicht eines der anspruchsvollsten in Frosts Gesamtwerk. Das lässt weitere, über die Erzählung hinausgehende dichterische Absichten vermuten. Das Surreale der Bilder und des Geschehens sind schon der erste Anhaltspunkt, dass es hier nicht nur um real existierende Problemkreise geht wie den Kontrast Mensch und Natur, um Krieg, um Tod, sondern um etwas Abstrakteres, und zwar um Sprache und um Spiel mit Sprache. Es wimmelt nämlich hier von Synonymen und Homonymen, oder, um bei einem der Bilder des Textes zu bleiben, hier wurde ein cobweb von Worten gesponnen und gewebt. Wir untersuchen das an der englischen Fassung, da sich die ganze Bandbreite dieses raffinierten Textes und seiner Elemente leider nicht in einer anderen Sprache wiedergeben lässt.

Es beginnt schon mit dem Titel. Das Wort Range-Finding gibt es als Eintrag in Wörterbüchern nicht, stattdessen rangefinder, den Entfernungsmesser an Fotoapparaten oder Schusswaffen. Entfernung von wem zu wem soll hier gemessen werden? Wer vertraut ist mit Frosts Gesamtwerk, wird spontan die oben genannte Distanz zwischen Mensch und Natur nennen. Nimmt man das Sonett als "Entfernungsmesser" und will man das Messergebnis ablesen, so ergibt sich: sowohl gar keine Distanz (beide gleichermaßen aggressiv und todbringend und auch gegeneinander gerichtet), als auch eine unendlich große (sie kümmern sich nicht umeinander). Das ist große Kunst, mit einem einzigen Wort und 14 folgenden kurzen Zeilen zwei widersprüchlich scheinende Antworten auf eine zentrale philosophische Frage zusammenzubinden! Überdies sind wir eingeladen, über das Paradoxe in dieser Wortschöpfung nachzudenken, denn range impliziert ja Weite und find letzten Endes Nähe. Der Blick geht auch innerhalb der Verse immer wieder vom Weiten zum Nahen und wieder zurück zum Weiten. Erst ist vom Schlachtfeld die Rede, dann von Nest und Blumen, dann von Bergen und schließlich von einem Spinnennetz, kurz: die Entfernung zwischen Auge und Objekt schwankt ständig. Das Thema Makrokosmos versus Mikrokosmos thematisierte Frost immer wieder, die beiden Sonette A Vantage Point und Any Size We Please sind weitere Beispiele dafür.

Befassen wir uns mit einzelnen Wörtern des Gedichts. Das Wort range allein genommen hat ungemein viel range, will heißen Bandbreite an Wortbedeutungen. Es kommt zwar im Gedicht selbst nicht vor, aber deren Synonyme: die Bedeutung Reihe in strung, die Bedeutung Tragweite in moment, die Bedeutungen Bergkette und Weideland in upland pasture.

Wie range in rangefinder hat auch cob in cobweb eine große Spanne an Bedeutungsnuancen. Etymologisch bezeichnet es etwas Rundes, am leichtesten am verwandten deutschen Wort Kopp/Kopf nachvollziehbar, dem es auch in der Bedeutung entspricht. Die Idee des Runden wird mit wheel of thread wieder aufgenommen, aber auch mit bent von Zeile 4. Cob als Kopf bildet einen Gegensatz zu breast als Sitz des Herzens in Zeile 3. Cobweb steht nest von Zeile 2 als Bau eines Tieres semantisch nahe und verweist auch auf rest in Zeile 7, auf die Blüte als Ruheplatz des Schmetterlings.

Diamond kann sowohl mit dem in Zeile 11 genannten silver dew in Verbindung stehen als auch durch seinen kristallinen Aufbau die Struktur eines Spinnennetzes nachbilden, dessen strahlenförmige Hauptfäden auf die Reflektionen eines Diamanten verweisen.

Strung, wie gesagt, nimmt range als Reihe wieder auf.

Human bildet den Gegensatz zu den bisher genannten Tieren und Pflanzen. Single steht im Kontrast zu double in der folgenden Zeile.

Stricken (verwundet), was Leid ausdrückt, ist das emotional stärkste Wort in diesem Gedicht. Es hat noch eine weitere Bedeutungsnuance, denn es ist wahrscheinlich abgeleitet von strike, sodass es auch "die getroffene Blume" heißen könnte.

In der zweiten Strophe passt revisited stilistisch nicht zu bird, allenfalls werden wir durch dieses hochgestochene Wort auf die personifizierte Spinne der letzten Strophe vorbereitet. Nehmen wir dieses Verb jedoch als Tipp zur "sprachlichen" Lesart des Gedichts, weist seine Bedeutung ein Thema wieder aufgreifen auf Frosts Dichtmethode in diesem Sonett hin, Wortbedeutungen immer wieder aufzunehmen und zu variieren. Revisited und sought bedeuten fast das gleiche, verweisen in ihrer Nebeneinanderstellung aber auf die Möglichkeit unterschiedlicher sprachlicher Niveaus hin.
Auch stoop hat mehrere Bedeutungsvarianten. Außer dem Sich-Niederlassen als Aktion des Schmetterlings schließt es als gebückt an die krumme Blume an. Als andere Form von swoop meint es das Niederstoßen des Raubvogels, was zum Schießen und zum Beutefang der Spinne passt.
Clung wird hier dem Schmetterling zugeschrieben, doch es ließe sich auch auf das Spinnennetz anwenden, das bekanntermaßen an irgendetwas klebt und selbst klebrig ist.

In der dritten Strophe häufen sich mit spread, thread und cable die Vo"kabeln" (zwar keine etymologische Verwandtschaft, aber lautliche Ähnlichkeit, damit arbeitet Frost auch hin und wieder), die mit der Textilherstellung verknüpft sind – es sei daran erinnert, dass das Wort Text mit Textilien verwandt ist, weil die Worte in jenem ja nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern wie diese versponnen, verzwirnt, verwebt und zu einem Muster gestaltet sind, wie Frost das hier in Perfektion vorführt. Durch 'twixt, was twist/zwirnen und text ähnelt, werden wir darauf aufmerksam gemacht. Mullein, deutsch Wollkraut (besser bekannt als Königskerze), hat seinen Namen von der rauhen Oberfläche der Blätter, die an Mull oder Wolle erinnert. Wheel lässt auch an ein Spinnrad denken, wenn thread daneben steht. Das weckt Assoziationen an die Parzen oder Nornen, die den Schicksalsfaden spinnen und abschneiden, was eine Verbindung schafft zu cut der ersten Strophe und dem vermuteten Tod des einen Menschen. Dort hatten wir überdies schon die Wörter cobweb (verwandt mit weben), strung (schnüren, aufziehen) und stain (färben). Mit wet und dry kann man das Waschen und Trocknen von Stoffen assoziieren. Auch zum Titel in der Bedeutungsnuance Messgerät lässt sich eine Verbindung herstellen, denn jahrtausendelang wurden mit verdrillten Fäden, sprich: Schnüren Entfernungen gemessen und auch heute noch ist das Maßband das bevorzugte Messgerät in der Schneiderei.

Sullenly (missmutig) in der letzten Zeile schließlich nimmt das range des Titels wieder auf, denn als Verb bedeutet range verärgert sein. So wird dieses Gedicht zu cob und wheel, zu einer runden Sache. Ob sich Frost bewusst war, dass range etymologisch vom germanischen Wort Ring abstammt?

Eine weitere Beobachtung. Twixt ist abgeleitet von two, zwei. Beim Menschen wird betont single breast, doch muss es ja mindestens noch eine zweite Person, nämlich den Schützen geben. Was die Tiere betrifft, finden wir Paare vor: Der Vogel mit seiner Brut, der Schmetterling mit der Blume, die Spinne mit der vermeintlichen Fliege. Die Blume ist nach dem Schuss zweigeteilt, geschossen wird zweimal. Ort und Zeit sind ebenfalls in Paaren angeordnet. Der Welt der Menschen ist die der Natur gegenübergestellt, und der von Schlacht und Schlachtfeld die der stillen Natur (upland pasture). Tag und Nacht werden gesetzt, und es entsteht der Eindruck, das Geschehen verteilt sich auf zwei Tage. Das kann auf die Kommunikation an sich hinweisen, die in der Theorie zwei Elemente voraussetzt, den Sender und den Empfänger, um mit den Begriffen der Kommunikationstheorie zu sprechen.

So findet der anfangs rätselhafte Titel seine Erklärung: Wer möchte, kann hier range, die Bandbreite von Wortbedeutungen finden und ihre Tragweite ausmessen und ermessen.

Dazu ein letzter Gedanke: Könnte man nicht auch sagen, das ganze Leben sei kein gesponnener Faden, der irgendwann abgeschnitten wird, sondern ein reiches Gewebe?

Ingeborg Schimonski