Gedanken zu Robert Frosts The Road Not Taken

Zunächst ein Blick auf die äußere Form: Vier Strophen zu je fünf Zeilen, regelmäßiges Reimschema a b a a b. Schwieriger ist das Versmaß des Gedichts zu identifizieren: Vorwiegend Jamben, diese aber durchmischt von Trochäen, Daktylen und Anapästen. Ein regelmäßiges Muster wird nicht erkennbar. Weniger präzise, aber praktikabler und aufschlussreicher ist es, fast alle Zeilen als vierhebige Jamben mit einer überzähligen Silbe aufzufassen. Nur die Zeilen 9 und 12 weisen vier reine Jamben auf. Zeile 13 hat 10 Silben. Dadurch wird der Rhythmus des Gedichts etwas holpernd, wie das Gehen auf einem Waldweg mit seinen Wurzeln und Steinen.

Nun zum Inhalt: Interpretationen von Robert Frosts The Road not Taken, ob schriftlich oder als Video auf youtube, tragen immer wieder Titel wie "What we've gotten wrong ... " oder "The almost Universally Misinterpreted Poem ... ". Hoppla, wie kann das passieren? Bei einem Gedicht, das doch so einfach zu verstehen ist?

Nun, etwas generalisierend kann man sagen, dass es zwei unterschiedliche Interpretationen dieses Gedichtes gibt, die ich als eine "populäre" und eine "philosophische" bezeichnen möchte. Beide sind sich einig, dass nicht nur von einem Waldspaziergang erzählt wird, sondern dass the road gleichnishaft für den Lebensweg steht und die Gabelung des Wegs die Wahl zwischen zwei Alternativen bedeutet. Sehr unterschiedlich ist dagegen der Sinn, den die beiden Interpretationen dem Gedicht beilegen.
Die populäre kommt zum Schluss, dass die getroffene Wahl das Leben entscheidend zum Positiven hin verändert hat. Zum Positiven deshalb, weil er der weniger begangene war, also nicht dem heute so genannten Mainstream folgt, sondern der eigene, individuelle, originelle, non-konforme ist, der Mut erforderte und zu einem erfüllten Leben wird. Dies entspricht einem modernen Topos, der mit den Schlagworten american way of life und im Zuge der Jugendkultur der 70er und 80er Jahre als Weg zum Ich, Selbstfindung etc. belegt werden kann. Jede einigermaßen gut sortierte Buchhandlung hat in den Abteilungen Lebenshilfe oder Esoterik Bücher zu diesem Thema anzubieten. Ausdruck dieser Deutung sind deutsche Übersetzungen der letzten Zeile wie ... bestimmte meinen Werdegang, ... das hat mein Leben umgedreht, ... veränderte ...
Auf welche Aussagen des Gedichts stützt sich diese Deutung? Nun, natürlich auf die Exposition, die ersten zwei Zeilen, die die Ausgangssituation beschreiben, und dann auf die letzten zwei Zeilen,

I took the one less traveled by, / And that has made all the difference.,
wobei dazugedacht wird: Unterschied in Bezug auf den ganzen Lebensverlauf des Sprechers und im Vergleich zu seinem Leben zuvor. Der Seufzer wird dabei nicht schlüssig erklärt. Das made wird aufgefasst als "eine Auswirkung auf das Leben haben". Subjekt zu made ist hierbei die Wahl des weniger begangenen Weges. Das Wort all betont, dass das "neue" Leben sehr verschieden ist von dem vorherigen und dass diese Verschiedenheit allein jener einen Wahl zu jenem einen Zeitpunkt zu verdanken sei. Das Gedicht spreche demnach von einem großartigen Ereignis. Helmut Heinrich, den ich im allgemeinen für den besten Robert-Frost-Übersetzer halte, folgt dieser Deutung, indem er die letzte Zeile mit Und von dem Tag rührt alles her wiedergibt, wobei er leider drei Zeilen zuvor ein Meer in den Text einführt, um ein Reimwort zu haben.1 Die anderen 16 Zeilen dazwischen werden bei dieser Interpretation ausgeblendet.

Ziemlich simpel das und nichts Neues unter dem Himmel, um mit der Bibel zu sprechen. Wenn The Road not Taken manchen veranlasst, sich von Vorurteilen und unnützen Gewohnheiten freizumachen und sich auf sich selber zu verlassen, ist das eine gute Sache. Allerdings bleibt die Frage, ob der nicht gewählte Weg nicht auch eine Änderung bewirkt hätte, die noch besser hätte sein können. Frost selbst aber bezeichnete das Gedicht als "tricky" (dass er das hervorhebt, will was heißen, denn fast alle seine Gedichte sind tricky, ohne dass er etwas dazu bemerkt) und ich finde auch, dass in diesem gelben Wald etliche Fallen versteckt sind.

Betrachten wir es daher Zeile für Zeile.

Zunächst die Überschrift The Road not Taken. Geht man davon aus, dass die Überschrift das zentrale Thema eines Textes umreißen soll, so steht also nicht der Weg, der eingeschlagen wurde, im Mittelpunkt des Interesses, sondern der hypothetische, der nicht realisierte. Schon dieses Faktum ist ein starkes Argument gegen die populäre Interpretation.

Dann die Eingangszeilen:
Two roads diverged in a yellow wood, / And sorry I could not travel both / And be one traveler,

I, travel und wood evozieren die Anfangszeilen von Dantes Göttlicher Komödie, mehr Verbindungen ergeben sich aber nicht. Two roads kann mit Herakles am Scheidewege assoziiert werden, der sich letztendlich für den "besseren" Weg entscheidet; insofern bahnt dieser Mythos vielleicht der populären Interpretation den Weg.
Yellow und lay in leaves weiter unten deuten auf den Herbst als Zeit, in dem das Geschehen spielt. Frost vermeidet jedoch das Wort Herbst, denn um melancholische Stimmung geht es überhaupt nicht, wie aus dem Folgenden deutlich wird. Außerdem könnte Herbst als Metapher für den letzten Lebensabschnitt aufgefasst werden, der hier ebenfalls nicht thematisiert wird. Yellow hingegen steht in Kontrast zu dem black in Zeile 12, obwohl auch das verneint und nur virtuell ist wie der nicht begangene Weg. Überhaupt ist der ganze Text von Dualitäten durchzogen, die damit two und diverge unterstützen: (Laub) oben und unten, (die Wege) rechts und links, gehen und anhalten, begangen und nicht begangen, betreten und nicht betreten, mit Gras und ohne Gras, virtuell und real (really, Zeile 10), Gleichheit und Unterschiedlichkeit, Sicherheit und Zweifel, heute und ein anderer Tag, Vergangenheit und Zukunft, Raum und Zeit, kurze und lange Zeiträume, ein bestimmter Ort und ein unbestimmter; möglicherweise noch andere mehr, die mir bislang entgangen sind.

Sorry scheint mir in Beziehung zum Seufzer in Zeile 16 zu stehen.

Ein erster Schlüsselsatz zur Deutung ist:
I could not travel both / And be one traveler.

Obwohl es sich nicht um ein Enjambement handelt, da die Grenze der beiden Teilsätze mit dem Zeilensprung zusammenfällt, liest ihn Frost als solches (https://www.youtube.com/watch?v=ie2Mspukx14). Ich komme später auf diese Beobachtung zurück.

Die nächsten zweieinhalb Zeilen befasst sich der Sprecher mit dem ersten Weg und unterstreicht die Intensität noch mit dem Wort long. Ergiebig sind die Überlegungen aber nicht, denn es bleibt verborgen, wohin er führt. Das Ziel des Weges ist also irrevelant für die Entscheidung, falls er überhaupt ein Ziel hat (im Wald gibt es ja auch sogenannte Holzwege).
Zur Dauer der Betrachtung des einen Weges steht in Kontrast die Kürze der Entscheidung für den anderen und die sofortige Umsetzung des Entschlusses in die Tat: Then took the other, eine halbe Zeile nur. Wir erfahren zwar auch nicht, wohin er führt, wenn man nicht as just as fair so auffassen will, dass er ebenfalls bald vom Unterholz verdeckt wird, aber als Argument wird angeführt, dass er mit Gras bewachsen ist und daher wohl auf irgendeine Weise verlockender wirkte. Wir müssen uns vor Augen halten, dass sich der Sprecher ab jetzt bereits auf dem zweiten Weg befindet und weitergeht und nur scheinbar vor der Wahl steht. Alles, was an Nachdenken bis zum Schluss des Gedichtes folgt, sind Rechtfertigungen im nachhinein, eine Vergangenheit in der Vergangenheit also. Frost macht mit wanted wear den Weg zum wollenden Subjekt, dem sich der Ich-Sprecher anschloss, sodass die Entscheidung eigentlich nicht nach dessen eigenen Bedürfnissen getroffen wurde. Überdies drückt perhaps aus, dass diese nicht auf sicherer Erkenntnis, sondern auf Vermutungen basierte.

Dreimal werden die Wege verglichen; daraus resultiert letztendlich, dass sie sich kaum unterscheiden: as just as fair, wie gesagt, about the same und equally. Allenfalls kann man aus dem grassy schließen, dass einer im allgemeinen weniger betreten wird als der andere, wohl graslose Weg, was auf Zeile 19 vorausdeutet. Doch auch diese eigentlich klare Aussage: hier ein Weg mit Gras und dort der andere anscheinend ohne, wird gleich wieder zurückgenommen, indem es heißt: Though the passing there ... Had worn them really about the same.
In ihrem aktuellen Zustand aber unterscheiden sich beide Wege gar nicht, denn auf beiden liegt die gleiche Schicht frisch gefallener Blätter. Mit anderen Worten: Es gab kein Kriterium, kein eindeutiges Argument für den einen oder für den anderen Weg. Die Entscheidung erfolgte, wie gesagt, fremdbestimmt und war entweder unbewusst oder Zufallsprodukt.

In Zeile 13 bringt der Sprecher das erste Mal die Zukunft ins Spiel, wünschend, beide Alternativen im zeitlichen Nacheinander wahrzunehmen. Doch seine Lebenserfahrung sagt ihm, dass die Rückkehr an die Stelle, an der sich die beiden Wege gabelten, selten durchführbar ist und zu einem späteren Zeitpunkt auch nicht mehr gewünscht sein könnte. Frost schreibt hier way anstatt road, damit wir nicht vergessen, dass es sich hier um eine symbolische Sprache handelt.

Zu Beginn der vierten und letzten Strophe wechselt die Zeit. Bisher war es Vergangenheit, also Rückblick, nun durch das shall Vorausblick, Zukunft. Im gegenwärtigen Moment also nimmt der Sprecher an, dass er somewhere, an einem ihm augenblicklich unbekannten Ort demnach, seufzen wird, obwohl er noch gar nicht wissen kann, was bis ages and ages hence passieren wird.
Theoretisch kann es sich um einen Seufzer der Erleichterung handeln, doch ein solcher ereignet sich spontan, wenn eine Situation sich überraschenderweise als positiver erweist als angenommen. Das steht in Widerspruch zu dem langen Zeitraum, in dem gerade gedacht wird. Eher ist anzunehmen, dass hier ein notorisches, bedauerndes, betrübtes Seufzen gemeint ist, das Bezug nimmt auf sorry in Zeile 2. Dazu passt übrigens bestens der Ton, in dem Robert Frost im oben erwähnten Video das Gedicht liest, nämlich auf traurige Weise, die zum Schluss deutliche Anzeichen von Stöhnen oder Überdruss zeigt.
Ab Zeile 18 wird die Zeitperspektive dann wirklich tricky. Es handelt sich nämlich um einen zeitlichen Zweifach(!)-Blick: von jetzt in die Zukunft und gleichzeitig von der Zukunft zurück in die Vergangenheit, ablesbar am Präteritum, in dem die letzten drei Sätze stehen, obwohl das Geschehen in der Zukunft abläuft. Der Sprecher fasst dabei die Ausgangssituation und den Inhalt der zweiten und dritten Strophe in drei Zeilen zusammen: das Merkmal der vermuteten Häufigkeit, mit der die beiden Wege genutzt wurden, made, machte all the difference, den ganzen Unterschied der beiden Wege aus. Mehr gab und gibt es nicht dazu zu sagen. Die Entscheidung an jener Weggabelung war eine von vielen und hatte keinen großen Effekt. Das erklärt den oben genannten Überdruss in Frosts Stimme: Immer wieder der Aufwand, Abwägen zu müssen und meist umsonst.
Die zeitlich gegenläufige Perspektive führt auch die populäre Interpretation ad absurdum, die einen Wandel im Leben des sprechenden Subjekts postuliert. Erst gegen Ende seines Lebens kann es ja wissen, ob es nach jenem Herbstmorgen eine bedeutende Veränderung gegeben hat. Aber es steht eben nicht am Ende des Lebens, sondern blickt vom gegenwärtigen Moment nur darauf hin und spricht nur das aus, mit was es sich gegenwärtig beschäftigt, nämlich mit dem Beschreiben der beiden Alternativen und der nachträglichen Rechtfertigung der Entscheidung, in der Annahme, dass sich die Fragen in ferner Zukunft noch einmal und vielleicht dringlicher stellen werden.

Warum ist der Sprecher so sicher, dass er einen Seufzer tun wird? Einfach deswegen, weil er jetzt schon, kurz nach der Entscheidung, um sein Bedauern weiß. Er kann, so wie die Sache hier dargestellt wird, auf keinerlei Weise wissen, ob diese sich als richtig oder falsch, als gut oder schlecht erweisen wird, aber ihm ist sehr gut bewusst, dass er auch gerne die andere Alternative ausprobieren wollte bzw. ausprobiert hätte. Das wird ausgedrückt mit ... sorry, I could not travel both / And be one traveler. Ich bin eins, die Welt ist zweigeteilt, und diese beiden Fakten sind in der Realität ständig aufeinander bezogen, indem die Zweiheit der Welt auf meine Einheit reduziert werden muss. Daher liest Frost auch so, als ob es eine einzige Zeile wäre.

Schriftliche Quellen belegen, dass Schreibanlass des Gedichts die Angewohnheit von Frosts Freund Edward Thomas war, vor Entscheidungen lange hin und her zu überlegen, hinterher die Wahl zu bereuen und sich mehr mit der nicht gewählten Variante zu beschäftigen. Daher ist der nicht genommene Weg Thema des Gedichts und nicht der genommene. Der nüchterne, ja düstere Ton widerspricht nicht der spöttischen Absicht, Frost hat immer wieder beides in seinen Gedichten miteinander verbunden. So ist durchaus zu erwägen, dass die letzte Strophe Übertreibungen enthält und ironisch gemeint ist. Ages and ages hence scheint mir angesichs der Lebenserwartung eines Menschen etwas übertrieben, und vielleicht imitiert Frost beim Lesen des letzten Satzes das Gejammer seines Freundes. Ist aber bloß Vermutung!

Kehren wir zum Allgemeinen zurück. Worum geht es also? Es geht um eine Grundbefindlichkeit des Menschen, nämlich in einer Welt der Dualitäten zu leben, und als eine Person sich ständig zwischen zwei oder mehr Varianten entscheiden zu müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Umstände ihm oft keine oder zu wenige Kriterien dafür an die Hand geben und dass sein Intellekt begrenzt ist. Insofern erinnert die geschilderte Situation weniger an die des Herakles, sondern in etwa an die des Esels, der landläufig Buridans Esel genannt wird.2
Es geht darum, dass der Mensch vieles nicht realisieren kann, was sich ihm als Möglichkeit bietet, ein Klagen also um verlorene Gelegenheiten, wobei dies nicht unbedingt die Folge eines Fehlurteils ist. Vielmehr sind es Raum und Zeit, die limitieren: Man kann nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten sein, höchstens nacheinander an verschiedenen Orten, was Frost in den Zeilen 14 und 15 anspricht, aber als meist illusorisch verwirft, da die übrigen Bedingungen (z. B. das Lebensalter) sich in der Zwischenzeit geändert haben. Hinzu kommt die innere Unruhe wegen der Unwissenheit über die nicht gewählten Möglichkeiten, vor allem dann, wenn die einst getroffene Wahl zu Schwierigkeiten führt oder sich als Fehlentscheidung herausstellt. Die Unsicherheit über diesen Punkt, gegründet auf die Fast-Gleichheit der beiden Alternativen, wird zur Einsicht in die Grenzen der menschlichen Existenz und Erkenntnisfähigkeit und zur Trauer darüber.

Man sieht an diesem Gedicht also sehr deutlich, dass Robert Frost kein Naturdichter ist, der hier beispielsweise die poetischen Seiten der prachtvollen Herbstwälder Englands oder Neuenglands heraufbeschwört. Er ist ein Rationalist und oft auch ein Pessimist. Seine genauen Naturbeobachtungen und -beschreibungen sind Ausgangspunkt für existentielle Reflektionen und illustrieren diese, um den Leser besser zu erreichen und ihn zum Verständnis zu bringen.

Ingeborg Schimonski

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1 Die Übertragung von Helmut Heinrich sowie alle anderen uns bekannten Übertragungen stellen wir unseren Lesern auf Wunsch gerne zur Verfügung. Mail genügt.
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Buridans_Esel